Ich habe die Liebe getroffen.

Sie zeigte mir ihr Gesicht, erzählte mir von ihren Reisen zu uns und von uns weg. Sie sprach von unserem Nichtsehen und Nichtfühlenwollen.

Auch die Liebe kann weinen. Als sie sich die Tränen wegwischte, kam ein leises Lächeln auf ihr Gesicht.

“Weißt du, manchmal bin ich ganz leise, fast lautlos. Manchmal poltere ich in eine Seele hinein. Manchmal streife ich sie nur. Manchmal muss ich schreien, um gehört zu werden. Es gibt Seelen, die berühre ich nur sacht und bei anderen muss ich das Herz umfassen und drücken, damit derjenige merkt, dass ich es bin Schlimm ist es, wenn ich zusehen muss, wie das, was ich säe nicht aufgeht. Wenn der sich umdreht und geht, ohne mich zu bemerken.Es ist ein hartes Brot- eine Suche nach offenen Herzen.”

Sie schwieg einen Moment. “Aber”, sagt sie dann, “ich habe auch die Hoffnung. Und dadurch bin ich unsterblich!”

Ein Lächeln, und weg war sie.

Ein grauer Tag. Es nieselt. Sie ist müde noch. Hat einen Termin in irgend so einem kleinen Ort. “Da fahre ich lieber eher los. Wer weiß!”, denkt sie sich und trinkt nur schnell ihren Kaffee.

Im Auto schaltet sie das Radio an. Die Nachrichten nerven, also Kassette rein. “Gut, das tut gut.”

Der vor ihr im Auto weiß auch nicht, was er will. Mal fährt er langsam, mal schnell. Und keine Möglichkeit, zu überholen. Urplötzlich entscheidet sich der vor ihr fürs Langsamfahren.

Sie muss bremsen. Der Wagen vor ihr kommt immer näher. “Mist, Mist!  He, was ist denn mit den Bremsen?” Sie bremsen, aber zu langsam. Auch das noch!  Sie schaut auf die Uhr : “Also schnell noch in die Werkstatt.”

“Können Sie bitte mal schauen, die Bremsen. Und ich muss noch weit fahren heute.” Sie versucht, freundlich zu schauen, immer noch müde. Der Mann hinter dem Schreibtisch sagt: “Der Meister macht das gleich. Sie können ja hier warten!”

Warten, graues Warten. Sie schaut gelangweilt zu dem Mann. “Den kenn ich doch irgendwoher?”, schießt es ihr durch den Kopf. Das Warten läßt sie ein Gespräch beginnen, banale Dinge, Plattheiten. Warten macht noch müder. Dann hört sie sich fragen: “Ich kenne Sie- da waren Sie aber anders. Haten Sie eine Krankheit?”

Der Mann hinter dem Schreibtisch zuckt zusammen, sichtbar. “Oh, entschuldigen Sie bitte. Das war wohl nicht so gut von mir”, sagt sie.

Der Mann richtet sich auf. Es berührt ihn, wie sie das fragt, der Ton. Da finden sich auf einmal im anfänglichen Tralalagespräch ganz neue Töne. “Ja”, sagt er dann, “ich hatte einen Unfall. Bin eingeschlafen am Steuer. Lag im Koma, hatte kein Gesicht mehr. Das hier ist ein anderes, aber ich bin es immer noch.” Ein Lächeln erscheint auf diesem neuen Gesicht.

Und sie fragt nach, interessiert sich, hört ihm zu. Ganz weich sind ihre Augen geworden, ganz warm ihre Stimme.

Der Mann hinter dem Schreibtisch beugt sich vor, erzählt von den Beinen, die nicht mehr laufen wollten. Es fällt ihm schwer. Die Worte sind wohl in seinem Kopf, aber sein Mund läßt sie nur stockend hinaus.

Sie ist sehr wach jetzt. Muss genau hinhören, um zu verstehen.

“Ich kenn das auch, weiß wie es ist, nicht mehr zu können”, sagt sie. Erzählt dann ihre Geschichte. “Diese Ohnmacht ist schwer zu ertragen, nicht wahr? Kennen Sie auch die Wut, wenn nichts mehr so geht wie vorher?”, fragt sie ihn.

Er nickt fast erleichtert.

“Und nun sitzen Sie hier. Das ist gut. Sie haben soviel geschafft”. Bewunderung klingt aus ihrer Stimme. Seine Augen fangen an, zu leuchten. Es ist, als ob sie ein Feuer angezündet hätte in ihm.

“Sie doch auch” ,sagt er dann. Ganz spontan drückt sie seinen Arm. Der Tag ist anders geworden. Er hat ein Lächeln bekommen.

Da hört sie den Werkstattmenschen: “Ihr Auto ist fertig!”

Der Mann hinter dem Schreibtisch steht auf, gibt ihr die Hand und sagt: “Ich mochte diesen Tag nicht beim Aufstehen. Danke, dass Sie heute hier waren.”

“Und, wie geht es dir, Mädel?”, fragst du mich im Gegenübersitzen. “Gut. Mein Herz wird ruhiger Mutti. Gelassener bin ich auch geworden!”. “Schön”, sagst du, “schön, dass du nicht mehr wie ein Irrwisch bis!”.

“Hm, dafür habe ich aber graue Haare bekommen. Schau mal! Da und da, ein ganzes Nest!”

!Ja, Mädel”, sagst du mit deinen bordeauxrot gefärbten Haaren. “Du bist immerhin 49. Da ist das nunmal so!”


 “Das ist nunmal so!”, den Satz kenn ich doch. Mein Gehirn sendet mir Bilder. Ich als kleines Mädchen. Sehe bockig aus. Warum wohl? Ach ja, ich soll in einen Garten für Kinder. Ich will da nicht hin! Garten hin, Garten her. Es gefiel mir nicht, gar nicht!” Will für mich bleiben, will ich sein und nicht tun, was andere wollen.


Damals sagtest du diesen Satz. “Du bist doch schon ein großes Mädchen. Alle Kinder gehen in den Kindergarten. Das ist nun mal so!”


Ich nahm die neue Brottasche, sie roch noch sehr nach Leder und lies deine Hand los. Ich hatte sie gern in meiner. Vielleicht, weil es so selten war. Meist hatte ich die von Vati.


Gut, da ging ich also tränenverschmiert in diese “ Es-ist-nun-mal-so-Welt” und war sauer, traurig, wütend. Da wollte ich nicht hin.


“Marie, wo bist du denn? Ich habe dich gerade gefragt, ob du dir nicht die Haare tönen willst. Du weißt schon, wegen der grauen Haare”, höre ich wieder die Stimme meiner Mutter.


“Ja, ja, natürlich!”, antworte ich.


Meine Beine sind schwer und mein Kopf wohl auch. Zu allem Übel beginnt es jetzt noch zu regnen. Eine Pause wäre nicht schlecht jetzt. Ja, warum eigentlich nicht?


Ich kann den Duft der heißen Schokolade schon aus der Entfernung riechen, als sie über den Köpfen der anderen Gäste angeschwebt kommt.


Meine Sinne arbeiten auf Hochtouren und so ist der erste Schluck ein absoluter Hochgenuss. Alles in mir wird still und friedlich.


Und so kann ich auch endlich aufschauen und mir die Menschen im Cafe betrachten. Mir gegenüber sitzt eine Frau mit dunklen glänzenden Haaren und wunderschönen braunen Augen. Als sie meinen Blick bemerkt, lächelt sie mich an. Und dieses Lächeln ruft sofort mein Lächeln auf.


Sie macht einen Geste. Wischt sich mit der Hand über das Gesicht. “Was meint sie?” Mein ungläubiger Blick läßt sie diese Bewegung wiederholen. “Oh, sie ist müde”, verstehe ich und deute auf meine Beine. Mache ihre Geste nach.


Das Lächeln von ihr verstärkt sich. “Sie ist taubstumm!”, bemerke ich nun endlich. Zeige auf meine Tasse Schokolade und mache eine Geste zum Bauch hin. Sie wiederholt.


Und nun strahlen wir beide.


Ihr Arm zeigt verschiedene Höhen vom Boden an und ihre Finger zeigen die Zahl drei. “Ah, drei Kinder!”. Nun bin ich dran. Drei Zahlen, drei Größen und sie staunt. “ 3 Kinder, so groß?” ,sagt ihr Blick. Ich zeige auf mich und meine Finger zählen 49. Ein Lächeln und ich erfahre auch ihr Alter.


Sie macht sauber, teilt sie mir mit, fragt mich in ihrer Sprache nach meinem Job. Also zeige ich auf das Buch vor mir und bewege meine Hand übers Papier. Ihr Daumen geht anerkennend nach oben.


Drei Schwestern hat sie in der Türkei. Alle sind taub und stumm und mit den Augen ist auch nicht alles in Ordnung. Für einen Moment hat sie Trauer in ihren braunen Augen.


Ich zeige zum Himmel, der sich gerade geöffnet hat und strahlend blau wird. Meine rechte Hand legt sich auf mein Herz, zeigt dann noch oben. Sie versteht, wiederholt die Geste und lächelt nun wieder.


Bevor ich gehe, lege ich ihr einen Zettel auf ihren Platz. Darauf steht danke.


Vormittag in einem Lüdenscheider Cafe..


Ein kleines Mädchen läuft an einer großen starken Hand.


Plötzlich sieht sie etwas vor sich auf dem Weg liegen. Etwas , wonach sie schon immer gesucht hatte- es jedoch nie mit Worten beschreiben konnte, denn sie kannte dieses Wort noch nicht.


Sie nannte es einfach ES.


Freudig will sie sich danach bücken, um ES aufzuheben. Ihr Herz schlägt wie irre. Sie ist ganz leicht. Das ist so ein absolut neues Gefühl.


Aber da zieht sie jemand zurück. Ganz scharf kommt eine Stimme : “Das läßt du liegen!” Ungläubig schaut sie hoch. Wen schaut sie an? Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das Herz wird zentnerschwer. Die Seele plumpst auf den Boden.


Sie streckt noch einmal die Hand aus. Da wird sie schon weitergezogen. Den Kopf nach hinten gewandt, läuft sie vorwärts. Das Wunderding wird immer kleiner.


So wird sie ihr Leben lang laufen. Vorwärts mit diesem nach hinten gewandten Kopf.


Und sie weiß- ES gibt es nur ein einziges Mal.


Aber- sie hofft.


Ich hatte einen großen Ast gefunden. Im Wald. Vor Wochen.


An seinem Ende war er zersplittert. Die Spitzen ragten scharf in den Tag. Ein Buchenbaumast war es.


Er lag zum Sterben verurteilt neben der großen starken Buche. Ein Sturm hatte sich in ihm verfangen, an ihm gezerrt, bis er halt nachgab und brach. Widerwillig brach. Das zeigten seine zersplitterten Enden. Er hatte gekämpft. Faser für Faser.


Und nun lag er da. Die Blattknospen schon angedeutet.


Ich bückte mich, berührte ihn und nahm ihn mit . Zu Hause stellte ich ihn ins Wasser und redete mit ihm, wenn ich gerade daran vorbeikam.


Nach langer, langer Zeit des Wartens und Hoffens sprangen die Schutzhüllen der Knospen auf. Er zeigt mir seine wunderbaren zarten Blätter.


Ich hatte wohl geahnt, wie stark er war.


Sie rollen immer noch, meine Gedankenwellen.


Ich fühle schon, dass sie ankommen. Aber der da am anderen Ufer, der empfindet diese Wellen von mir als zu heftig. Sie machen ihm Angst. Ich könnte damit sein Haus oben auf den Klippen zum Einstürzen bringen.


Für ihn bin ich mit meiner Heftigkeit eine Gefahr.


Ich habe all das ausgesprochen, was ich und wohl auch er fühlen. Er hat sich in meinen Gedanken wiedergefunden.


Aber sein Lebenshaus, öde zwar, will er nicht umbauen.


Noch nicht einmal eine neue Tür einsetzen. Er kann nicht.


Und so rolle ich mit meiner Welle nur noch sacht an seinen Strand. Er ist erleichtert.


Vielleicht kann er ja eines Tages wieder einen Fuß in diese Welle setzen ohne Angst, davongerissen zu werden?


Es regnet. Langsam rinnt ein Tropfen am Fenster herab. Marie fährt mit dem Finger die Linien nach.


Irgendwie ist ihr zum Heulen, aber die Tränen wollen noch nicht heraus aus ihr. “Was ist denn eigentlich passiert!”


Sie sieht in Gedanken sein Gesicht, hört seine Stimme und bekommt jetzt auf einmal auch sehr deutlich mit, was diese Stimme denn sagt. Sie sagt : “Ich möchte dich nicht wiedersehen!”


Gestern stand sie nur da und hat ungläubig geschaut. “Was sagt er da? Nicht wiedersehen? Wiseso denn?”


Ein paar Stunden zuvor waren sie noch Hand in Hand durch Würzburg gelaufen. “Schau mal da!”


Sein Lächeln, seine warme Hand in ihrer. Ab und zu blieben sie stehen, umarmten und küssten sich. All die Leute ringsherum haben sie nicht gestört.


Eine schlanke Frau Anfang Vierzig, die einen Mann Mitte Vierzig küsst.


Damals hat sie gefühlt, dass Alter eigentlich nur eine Aneinanderreihung von Zahlen ist. Nicht an diesem vierzigjährigen Gefühl war anders als ein siebzehnjähriges. Schön war es- einfach nur schön.


Und nun steht sie da und zieht mit dem Finger Regentränen nach.


Er könne es nicht mehr aushalten, er käme sich schlecht vor, er wäre zerrissen, hört sie ihn sagen.


Als sie sich kennenlernten, gab es diese Worte noch nicht. “Irgendwo schon egoistisch”, hat sie damals oft gedacht.


Das große Gefühl, was sie da überollte, ließ ihnen keine Luft. Das war ein sich Erkennen. Nichts weiter zählte, als die Nähe des anderen zu suchen. Fern aller Normalität fand das statt. Sie beide eben nur.


Irgendwann meldeten sich leise Fragezeichen zu Wort. Die wurden geradegebogen von den vielen Ja-Antworten. Und aus den Fragezeichen wurden Ausrufezeichen. “Es ist die Liebe!”


Eine geborgte Liebe. Eine auf Raten. Eine, die rückwärts läuft auf der Zeitenskala. Niemand konnte loslassen. Wenn das nicht mehr wäre, würde die Welt wieder einen Grauschleier haben.


Ein Jahr voller Gefühle, voller Liebe und Lachen. Ein Lebenjahr.


Immer wieder die Frage .”Ist das real?” Lachen und Berührungen gaben die Antwort. “Wenn Gott das zuläßt, wenn Gott uns zusammengeführt hat, dann muss es doch ewig sein?”


Gott hatte aber ihm schon die Katharina gegeben. Gott hatte auch ihr einen Mann gegeben. Gut, einen der sie schlägt. Sie verletzt, verbal auch, aber halt diesen Mann


Alles so schön, alles so kompliziert!


Marie hatte dadurch den Mut gefunden, die Kinder zu nehmen. Sich auf eigene Füße zu stellen. Aus dem Nichts ein neues anderes Leben zu führen. Allein, und doch mit seiner Liebe. Die gab ihr Kraft, einen Stein nach dem anderen wegzuräumen. Ächtzend, kaputt, nahe am Ende und doch immer weiter. Im Kopf die kleine Illusion: “Ob es ginge mit ihm?” Und auch die Frage: “Auf Scherben Neues aufbauen?”


Er stand da, schaute fast hilflos nach vorn und nach hinten.


“Du musst es ganz für dich entscheiden. Nie etwas mir zu Liebe. Stelle dir vor, ich wäre nicht da. Weißt du, wie ichs meine?”


Und gestern sagte er diese Worte. Er konnte nicht anders.


Marie akzeptiert es. Es tut weh, es zerreißt sie fast.


Sie steht da, zieht mit dem Finger Gottes Tränen nach und kann endlich weinen.