Es regnet. Langsam rinnt ein Tropfen am Fenster herab. Marie fährt mit dem Finger die Linien nach.
Irgendwie ist ihr zum Heulen, aber die Tränen wollen noch nicht heraus aus ihr. “Was ist denn eigentlich passiert!”
Sie sieht in Gedanken sein Gesicht, hört seine Stimme und bekommt jetzt auf einmal auch sehr deutlich mit, was diese Stimme denn sagt. Sie sagt : “Ich möchte dich nicht wiedersehen!”
Gestern stand sie nur da und hat ungläubig geschaut. “Was sagt er da? Nicht wiedersehen? Wiseso denn?”
Ein paar Stunden zuvor waren sie noch Hand in Hand durch Würzburg gelaufen. “Schau mal da!”
Sein Lächeln, seine warme Hand in ihrer. Ab und zu blieben sie stehen, umarmten und küssten sich. All die Leute ringsherum haben sie nicht gestört.
Eine schlanke Frau Anfang Vierzig, die einen Mann Mitte Vierzig küsst.
Damals hat sie gefühlt, dass Alter eigentlich nur eine Aneinanderreihung von Zahlen ist. Nicht an diesem vierzigjährigen Gefühl war anders als ein siebzehnjähriges. Schön war es- einfach nur schön.
Und nun steht sie da und zieht mit dem Finger Regentränen nach.
Er könne es nicht mehr aushalten, er käme sich schlecht vor, er wäre zerrissen, hört sie ihn sagen.
Als sie sich kennenlernten, gab es diese Worte noch nicht. “Irgendwo schon egoistisch”, hat sie damals oft gedacht.
Das große Gefühl, was sie da überollte, ließ ihnen keine Luft. Das war ein sich Erkennen. Nichts weiter zählte, als die Nähe des anderen zu suchen. Fern aller Normalität fand das statt. Sie beide eben nur.
Irgendwann meldeten sich leise Fragezeichen zu Wort. Die wurden geradegebogen von den vielen Ja-Antworten. Und aus den Fragezeichen wurden Ausrufezeichen. “Es ist die Liebe!”
Eine geborgte Liebe. Eine auf Raten. Eine, die rückwärts läuft auf der Zeitenskala. Niemand konnte loslassen. Wenn das nicht mehr wäre, würde die Welt wieder einen Grauschleier haben.
Ein Jahr voller Gefühle, voller Liebe und Lachen. Ein Lebenjahr.
Immer wieder die Frage .”Ist das real?” Lachen und Berührungen gaben die Antwort. “Wenn Gott das zuläßt, wenn Gott uns zusammengeführt hat, dann muss es doch ewig sein?”
Gott hatte aber ihm schon die Katharina gegeben. Gott hatte auch ihr einen Mann gegeben. Gut, einen der sie schlägt. Sie verletzt, verbal auch, aber halt diesen Mann
Alles so schön, alles so kompliziert!
Marie hatte dadurch den Mut gefunden, die Kinder zu nehmen. Sich auf eigene Füße zu stellen. Aus dem Nichts ein neues anderes Leben zu führen. Allein, und doch mit seiner Liebe. Die gab ihr Kraft, einen Stein nach dem anderen wegzuräumen. Ächtzend, kaputt, nahe am Ende und doch immer weiter. Im Kopf die kleine Illusion: “Ob es ginge mit ihm?” Und auch die Frage: “Auf Scherben Neues aufbauen?”
Er stand da, schaute fast hilflos nach vorn und nach hinten.
“Du musst es ganz für dich entscheiden. Nie etwas mir zu Liebe. Stelle dir vor, ich wäre nicht da. Weißt du, wie ichs meine?”
Und gestern sagte er diese Worte. Er konnte nicht anders.
Marie akzeptiert es. Es tut weh, es zerreißt sie fast.
Sie steht da, zieht mit dem Finger Gottes Tränen nach und kann endlich weinen.
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